Von Vlasta Kovbasa
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Wichtigste Schlussfolgerungen:
- Umfang und Dokumentation: Über 128.000 Fälle russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine sind dokumentiert. Sowohl ukrainische Gerichte als auch internationale Gremien unternehmen umfangreiche Anstrengungen, um die Täter strafrechtlich zu verfolgen.
- Internationale rechtliche Schritte: Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat Haftbefehle gegen hochrangige russische Beamte, darunter Wladimir Putin, erlassen. Dies unterstreicht das Engagement der internationalen Gemeinschaft für Rechenschaftspflicht.
- Universelle Gerichtsbarkeit: Länder wie Deutschland, Litauen und Argentinien nutzen die universelle Gerichtsbarkeit, um russische Kriegsverbrecher zu verfolgen, auch wenn keine direkte Verbindung zu den Verbrechen besteht.
- Sondergerichte: Verschiedene Modelle für Sondergerichte werden in Betracht gezogen, um das Verbrechen der Aggression zu verfolgen. Aufgrund von Immunitätsproblemen lehnt die Ukraine jedoch hybride Gerichte ab.
- Technologische Fortschritte: Plattformen wie WarCrimes.gov.ua und Technologien wie KI und OSINT verbessern die Beweiserhebung und Dokumentation erheblich.
- Beteiligung der Zivilgesellschaft: Ukrainische Menschenrechtsorganisationen spielen eine entscheidende Rolle bei der Dokumentation von Kriegsverbrechen und der Unterstützung von Ermittlungen.
- Historische Präzedenzfälle: Das Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit wurde erfolgreich in Fällen wie dem Völkermord in Ruanda und im Prozess gegen Augusto Pinochet angewandt und hat wichtige Präzedenzfälle geschaffen.
- Herausforderungen und Einschränkungen: Die universelle Gerichtsbarkeit steht vor Hindernissen wie unterschiedlichen nationalen Gesetzen und der Möglichkeit von Prozessen in Abwesenheit, bleibt jedoch ein wichtiges Instrument der Justiz.
- Globale Zusammenarbeit: Internationale Bemühungen sind entscheidend, um Kriegsverbrecher strafrechtlich zu verfolgen, die Zahl der sicheren Häfen für Täter zu verringern und sicherzustellen, dass Gerechtigkeit geübt wird.
Mehr als 128.000 Fälle russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine – jeder davon hinterlässt unzählige zerstörte Leben – sind im Einheitlichen Register der Ermittlungsverfahren dokumentiert. Das Gesetz hat jedoch bereits russische Kriegsverbrecher fest ins Visier genommen. Angesichts der 530 Anklagen ukrainischer Gerichte, der Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) – darunter einer gegen Wladimir Putin, den Hauptanstifter des Krieges – sowie der Anklagen gegen russische Kriegsverbrecher in den Vereinigten Staaten und laufender Ermittlungen zu Kriegsverbrechen in über 20 anderen Ländern, ist es offensichtlich, dass die Rechenschaft auch vor der vollständigen Wiederherstellung des Friedens verfolgt werden sollte. Der Teufelskreis der Straflosigkeit kann nicht ewig fortbestehen. Die ukrainische Gesellschaft fordert nachdrücklich, die Täter auf allen Ebenen der Kommandostruktur zur Rechenschaft zu ziehen. Jedoch stellt das Ausmaß des Problems eine Reihe von logistischen und rechtlichen Herausforderungen dar. Nur durch gemeinsames Handeln und die Unterstützung internationaler Partner kann Gerechtigkeit wiederhergestellt werden. In diesem Artikel werden verschiedene Strategien zur rechtlichen Verantwortung der Täter behandelt, wobei ein Schwerpunkt auf dem Prinzip der universellen Jurisdiktionund die Rolle einzelner Staaten liegt, um Gerechtigkeit für ukrainische Kriegsopfer zu erreichen.
I. Kernverbrechen des Völkerrechts: Rechtliche Möglichkeiten zur Verfolgung Russlands und seiner Führungskräfte
Mit der großangelegten Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 hat Russland deutlich gemacht, dass massive Menschenrechtsverletzungen und die eklatante Missachtung des humanitären Völkerrechts zur offiziellen Politik des kriminellen Kreml-Regimes gehören. Die internationale Gemeinschaft hat rasch ihre Entschlossenheit demonstriert, gemeinsam die Rechtsordnung wiederherzustellen. Kurz nach der Invasion kündigte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, basierend auf Überweisungen von 40 Vertragsstaaten, die Aufnahme von Ermittlungen zu „allen vergangenen und gegenwärtigen Anschuldigungen wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord, die seit dem 21. November 2013 auf dem Gebiet der Ukraine begangen wurden.“
Die Russische Föderation hat abscheuliche Verbrechen gegen die Ukraine begangen, darunter das Verbrechen der Aggression, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Darüber hinaus können gemäß der PACE-Resolution vom 27. April 2023 die russischen Maßnahmen zur Deportation und Zwangsüberführung ukrainischer Kinder nach Russland oder in vorübergehend besetzte Gebiete als Völkermord eingestuft werden. Obwohl die Resolution nicht bindend ist, enthält sie wichtige politische Forderungen und ist ein Schritt in Richtung einer rechtlichen Untersuchung des Völkermordes. Nach dem Römischen Statut ist der Internationale Strafgerichtshof für die vier oben genannten schwersten Verbrechen zuständig, die die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren.
Die Begehung des Verbrechens der Aggression1 betrifft im Wesentlichen die höchsten politischen und militärischen Autoritäten des Staates; es handelt sich daher um ein sogenanntes Führungsverbrechen. Gemäß den Kampala-Änderungen zum Verbrechen der Aggression ist der Internationale Strafgerichtshof befugt, seine Gerichtsbarkeit ausschließlich über Vertragsstaaten des Römischen Statuts auszuüben. Diese Bestimmung gilt nicht für Russland, da es kein Vertragsstaat des Statuts ist. Obwohl die Ukraine das Römische Statut noch nicht ratifiziert hat, hat sie zweimal die Gerichtsbarkeit des Strafgerichtshofs über auf ihrem Territorium begangene Gräueltaten anerkannt, wobei die zweite Erklärung vom Februar 2014 unbefristet ist. Tatsächlich kann der IStGH auch das Verbrechen der Aggression untersuchen, wenn eine Überweisung durch den UN-Sicherheitsrat erfolgt; dieser ist jedoch durch das russische Veto-Recht blockiert. Dadurch entsteht eine große Lücke in der Rechenschaftspflicht bezüglich des Verbrechens der Aggression.
Da der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) keine realisierbare Option für die Verfolgung von Aggressionsverbrechen gegen die Ukraine darstellt, werden Diskussionen über die Einrichtung eines Sondertribunals geführt, das die höchsten Amtsträger, insbesondere Putin, vor Gericht bringen könnte. Die potenziellen Modelle für ein zukünftiges Tribunal sind sehr unterschiedlich. Ein Beispiel ist ein Tribunal, das auf der Grundlage eines Abkommens zwischen der Ukraine und den Vereinten Nationen mit Zustimmung der Generalversammlung eingerichtet wird. Ein anderes Modell könnte durch einen Vertrag unter der Schirmherrschaft des Europarats gegründet werden. Es gibt sogar Überlegungen zu einem hybriden Tribunal, das in das ukrainische Justizsystem integriert werden könnte. Während die G7-Staaten bisher die letzte Option befürwortet haben, vertritt Kyjiw einen prinzipiellen Standpunkt: ein hybrides Tribunal steht nicht zur Debatte, da es nicht in der Lage sein wird, die Immunitäten der sogenannten „Troika“ (bestehend aus dem russischen Präsidenten, Premierministers und Außenministers) zu überwinden. Diese Position ist von entscheidender Bedeutung, da sie betont, dass das Blut des ukrainischen Volkes nicht nur an den Händen der Täter, sondern auch auf dem Gewissen derjenigen lastet, die kriminelle Befehle erteilen.
Ohne die Bedeutung zu unterschätzen, einen Mechanismus zur Untersuchung des Verbrechens der Aggression zu finden, ist es notwendig, die wichtige Arbeit des IStGH bei der Untersuchung anderer Kernverbrechen hervorzuheben. Am 17. März 2023 erließ der IStGH Haftbefehle gegen Wladimir Putin und Marija Lwowa-Belowa, die russische Präsidialbeauftragte für Kinderrechte, wegen der rechtswidrigen Deportation ukrainischer Kinder in die Russische Föderation. Laut der Initiative „Children of War“ hat Russland seit Beginn der großangelegten Invasion mehr als 19.500 Kinder deportiert, wobei die tatsächliche Zahl möglicherweise höher liegt.
Kinder wurden von der Kreml-Propaganda stark instrumentalisiert: Unter dem Vorwand der „Rettung“ ukrainischer Kinder hat Russland ein mafiöses kriminelles Netzwerk aufgebaut, das aus mehreren Institutionen besteht, darunter die Russisch-Orthodoxe Kirche, und sich mit der Deportation, Umerziehung und Indoktrination dieser Kinder mit „russischen traditionellen Werten“ beschäftigt.
Ein Jahr später, am 5. März 2024, erließ der IStGH zwei weitere Haftbefehle gegen zwei hochrangige russische Militärbefehlshaber. Diese sind verantwortlich für Kriegsverbrechen, einschließlich Angriffe auf zivile Objekte und Verursachung übermäßiger Schäden an Zivilisten unter Verletzung der Genfer Konventionen, denen Russland weiterhin als Vertragspartei angehört. Die Anzahl der Haftbefehle stieg am 24. Juni 2024, als der IStGH die Beweise als ausreichend erachtete, um Sergei Schoigu, den ehemaligen russischen Verteidigungsminister, und Waleri Gerassimow, den Chef des Generalstabs der russischen Streitkräfte, ins Visier zu nehmen. Sie tragen unter anderem die Verantwortung für die Raketenangriffe der russischen Armee auf die Strominfrastruktur der Ukraine. Dies bedeutet, dass die betreffenden Verdächtigen, falls sie sich im Hoheitsgebiet eines der 124 Vertragsstaaten des Römischen Statuts aufhalten, unverzüglich festgenommen und dem IStGH übergeben werden müssen — ein wichtiger Schritt zur erheblichen Reduzierung der sicheren Häfen für individuelle Kriegsverbrecher.
Russische Kriegsverbrechen können auch vor ukrainischen Gerichten und in anderen Ländern untersucht und strafrechtlich verfolgt werden, was weitere Perspektiven für die Gerechtigkeit eröffnet.
II. Dokumentation von Kriegsverbrechen: Kein Täter wird unentdeckt bleiben
Während es Jahre dauern könnte, die russische Führungsspitze zur Rechenschaft zu ziehen, konzentriert sich die Ukraine auf die Untersuchung von Kriegsverbrechen, die von „direkten Tätern“ begangen wurden. Nach Angaben des Generalstaatsanwalts der Ukraine ermitteln die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden derzeit in 128.000 Fällen von Kriegsverbrechen. Eine so große Anzahl von Fällen würde jedes System vor eine Herausforderung stellen, einen menschzentrierten Ansatz zu verfolgen, um eine Retraumatisierung der Opfer zu vermeiden. Darüber hinaus befasst sich die Ukraine mit einem breiteren Spektrum von Kriegsverbrechen, die bisher nicht strafrechtlich verfolgt wurden, wie zum Beispiel Umweltverbrechen und Cyberangriffe.
Russlands illegale Handlungen in der Ukraine sind nicht sporadisch – es gibt ein klares Muster schwerer Menschenrechtsverletzungen, einschließlich, aber nicht beschränkt auf Tötungen, Freiheitsberaubung, Folter, sexuelle Gewalt, Verschwindenlassen, Angriffe auf zivile Infrastrukturen und außergerichtliche Hinrichtungen. Indem Russland den Zugang zu den Haftorten ukrainischer Kriegsgefangener und unrechtmäßig festgehaltener Zivilisten verweigert, missachtet es weiterhin das Mandat des IKRK und der zuständigen UN-Organisationen.
Um die Bemühungen der staatlichen Behörden und der Zivilgesellschaft zu vereinen, hat die Ukraine spezielle Plattformen wie WarCrimes.gov.ua und Svidok eingerichtet. Über diese Plattformen kann die Öffentlichkeit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit melden, die von Russland in der Ukraine begangen wurden. Moderne Technologien sind zwar relativ neu, aber äußerst hilfreich bei der Beweissammlung. So wird Palantir beispielsweise für die Analyse riesiger Datenmengen verwendet, während Microsoft für die Spracherkennung von Kriminellen eingesetzt wird, die angeblich zum Völkermord aufrufen. Der Einsatz von KI- und OSINT-Tools ermöglicht die Echtzeiterfassung von Beweismaterial und die Aufdeckung schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen. Dies nährt die Hoffnung, dass keine Täter mehr unerkannt bleiben.
Ein großer Teil der Arbeit zur Dokumentation von Kriegsverbrechen wird von ukrainischen Menschenrechtsorganisationen geleistet, die ihre Bemühungen kurz nach der großangelegten Invasion durch die Gründung der „Ukraine. 5 AM Coalition“ gebündelt haben. Zu den Teilnehmern gehören unter anderem ZMINA, Media Initiative for Human Rights, Truth Hounds, die Ukrainian Helsinki Human Rights Union und weitere erfahrene Organisationen. Ihre Methodik umfasst die Durchführung von Feldmissionen in befreiten Gebieten, die direkte Zusammenarbeit mit Opfern und Zeugen sowie die Integration von Informationen aus öffentlich zugänglichen Quellen. Ihre Erkenntnisse tragen erheblich zu den Ermittlungen des IStGH, der ukrainischen Gerichte und möglicherweise auch ausländischer Gerichte bei, die Verfahren auf Basis des Prinzips der universellen Gerichtsbarkeit einleiten könnten.
III. Universelle Gerichtsbarkeit: Justiz ohne Grenzen
Die Ursprünge der universellen Gerichtsbarkeit reichen zurück in die Zeit, als Piraten als größte Feinde der Menschheit angesehen wurden – Staaten konnten sie unabhängig von ihrer Nationalität bestrafen. Heute erkennt die internationale Gemeinschaft an, dass bestimmte Verbrechen von solchem Ausmaß sind, dass sie eine Bedrohung für die gesamte Weltordnung darstellen und daher nicht toleriert werden können. Dazu zählen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Folter.
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm das Weltrechtsprinzip seine moderne Form an und wurde in der Völkermordkonvention von 1948, den Genfer Konventionen von 1949 und dem Übereinkommen gegen Folter von 1984 anerkannt und durch mehrere andere Menschenrechtsverträge bekräftigt. Der Grundsatz besagt, dass die nationalen Behörden eines jeden Staates internationale Verbrechen unabhängig vom Ort des mutmaßlichen Verbrechens und ungeachtet der Staatsangehörigkeit und des Wohnsitzes der Täter und Opfer untersuchen und strafrechtlich verfolgen können. Mit anderen Worten: Auch wenn die Staaten keine direkte „Verbindung“ zu dem begangenen Verbrechen haben, können sie es im Namen des Schutzes universeller Werte verfolgen.
Bis heute haben rund 150 Staaten die universelle Gerichtsbarkeit zumindest teilweise in ihre Gesetzgebung integriert, wie Amnesty International berichtet. Die Beteiligung verschiedener Rechtsprechungssysteme, insbesondere in Ländern, in denen sich derzeit Überlebende russischer Kriegsverbrechen sowie Zeugen aufhalten, ist für die Ukraine von großer Bedeutung. Mehrere Staaten haben bereits Voruntersuchungen unter universeller Gerichtsbarkeit eingeleitet, beginnend mit Deutschland Anfang März 2022, gefolgt von Litauen, Lettland, Estland, Schweden, Spanien, Polen, der Slowakei, Frankreich, Norwegen und der Schweiz. Einige dieser Fälle zielen nicht auf bestimmte Personen ab, sondern dienen der Sammlung von Beweisen und Mustern von Kriegsverbrechen. Der neueste Fall einer Strafanzeige bei einem ausländischen Gericht (außerhalb Europas und der USA) fand am 15. April 2024 in Argentinien statt. Das Reckoning Project reichte im Namen eines ukrainischen Mannes, der von russischen Besatzern gefoltert wurde, eine Klage ein. Sollte Argentinien, das bereits umfangreiche Erfahrungen im Kampf für Gerechtigkeit durch universelle Zuständigkeit hat, eine Untersuchung einleiten, wird dies einmal mehr deutlich machen, dass die sicheren Häfen für russische Verbrecher schrumpfen.
Einer der bekanntesten Fälle der Anwendung der universellen Gerichtsbarkeit sind die Prozesse gegen die Verantwortlichen für den Völkermord in Ruanda 1994. Im Jahr 2001 verurteilte Belgien vier ruandische Staatsbürger zu Haftstrafen zwischen 12 und 20 Jahren, und 2010 verurteilte Finnland den ehemaligen ruandischen Pastor François Bazaramba zu lebenslanger Haft wegen seiner Beteiligung am Völkermord in Ruanda 1994.
Kürzlich, am 15. Mai 2024, verurteilte das Bundesstrafgericht in der Schweiz den früheren gambischen Innenminister Ousman Sonko wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter Tötungen, Folter und Vergewaltigungen, zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren. Zuvor hatte er Gambia verlassen und in der Schweiz Asyl beantragt. Die Verurteilung eines so hochrangigen Staatsfunktionärs stellt einen beispiellosen Erfolg der universellen Gerichtsbarkeit in Europa dar. Wie der Journalist Madi MK Ceesay feststellte, „zeigt der Prozess, dass der lange Arm der Justiz den Täter immer erreichen kann“, berichtete die Associated Press.
Ein wichtiges Beispiel in Bezug auf die Immunität von Staatsoberhäuptern und die universelle Gerichtsbarkeit ist der Fall von Augusto Pinochet. Auch wenn er letztendlich nicht ausgeliefert wurde, zeigt seine Verhaftung in London im Jahr 1998 aufgrund eines Haftbefehls eines spanischen Gerichts einen bedeutenden Präzedenzfall für die Anwendung des Weltrechtsprinzips. Trotz der Ansprüche auf Immunität des Präsidenten vor Strafverfolgung entschied das höchste Gericht des Vereinigten Königreichs, dass eine solche Immunität sich nicht auf schwere Verbrechen wie Folter, außergerichtliche Tötungen und erzwungenes Verschwindenlassen erstreckt.
IV. Hindernisse und Vorteile der universellen Gerichtsbarkeit
Während Themen wie die Errichtung eines Sondertribunals einen internationalen Konsens erfordern, obliegt die Entscheidung zur Anwendung der universellen Gerichtsbarkeit den einzelnen Ländern und hängt von ihrem politischen Willen sowie den Besonderheiten der nationalen Gesetzgebung ab. Es ist wichtig, sich auf den letztgenannten Aspekt zu konzentrieren, da die Länder in ihrer Interpretation und Festlegung der Bedingungen für die universelle Gerichtsbarkeit variieren. Tatsächlich benötigen einige Länder nicht einmal Klagen von Opfern, sondern können rechtliche Schritte einleiten, wenn ausreichende Beweise vorliegen. Im Gegensatz dazu reicht in anderen Systemen selbst die Anwesenheit von Opfern aufgrund verschiedener rechtlicher Beschränkungen nicht aus, um Ermittlungen einzuleiten.
Die universelle Gerichtsbarkeit kann in zwei Typen unterteilt werden: absolute und bedingte.
Unter der absoluten universellen Gerichtsbarkeit können die abscheulichsten Verbrechen unabhängig davon verfolgt werden, wo sie begangen wurden und welche Staatsangehörigkeit sowohl das Opfer als auch der Täter haben. In Europa üben mehrere Staaten diese Form der universellen Gerichtsbarkeit aus, wobei Deutschland das prominenteste Beispiel ist. Im November 2021 wurde Deutschland das erste Land, das ein Mitglied des Islamischen Staates (IS) wegen Völkermords an den Jesiden, einer ethnisch- religiösen Minderheit im Irak, und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilte. Außerdem wurde im Januar 2024 ein ehemaliger syrischer Oberst von einem deutschen Gericht wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt. Weder er noch das zuvor erwähnte IS-Mitglied hatten einen Bezug zu Deutschland.
Dennoch können die meisten Staaten die universelle Gerichtsbarkeit nur ausüben, wenn es eine stärkere Verbindung zwischen dem mutmaßlichen Verbrechen und dem betreffenden Staat gibt. Beispielsweise können Österreich, Spanien und die Schweiz strafrechtliche Verfahren nur einleiten, wenn sich der Verdächtige in ihrem Hoheitsgebiet befindet. Frankreich beruft sich nur dann auf die universelle Gerichtsbarkeit, wenn das Opfer die französische Staatsangehörigkeit besitzt oder der mutmaßliche Täter französischer Staatsbürger oder Einwohner ist. Das Kriegsverbrechergesetz der Vereinigten Staaten (War Crimes Act of 1996) erlaubte bis 2022 die Untersuchung von Kriegsverbrechen, die überall begangen wurden, vorausgesetzt, dass entweder das Opfer oder der Verdächtige ein Mitglied der US- Streitkräfte oder ein amerikanischer Staatsangehöriger ist.
Drei Monate nach der brutalen russischen Invasion in der Ukraine wurde das US-Gesetz über die Gerechtigkeit für Opfer von Kriegsverbrechen (Justice for Victims of War Crimes Act, JVWC) eingeführt und am 5. Januar 2023 von Präsident Biden unterzeichnet. Es ermöglicht die strafrechtliche Verfolgung mutmaßlicher Kriegsverbrechen, die von ausländischen Staatsangehörigen im Ausland begangen wurden, sofern sich diese Personen auf dem Territorium der USA befinden. Diese Entscheidung hat zwar keine rückwirkende Kraft, legt jedoch den Grundstein dafür, dass die Vereinigten Staaten diejenigen zur Rechenschaft ziehen können, die Kriegsverbrechen gegen das ukrainische Volk begehen.
Eine weitere Einschränkung für das System der universellen Gerichtsbarkeit ist die Möglichkeit, In- absentia-Verfahren durchzuführen, das heißt, ohne die physische Anwesenheit des Angeklagten. Viele Länder betrachten Abwesenheitsverfahren als problematisch, da sie Herausforderungen bei der Gewährleistung des Rechts auf ein faires Verfahren darstellen. Anders als in der Ukraine, die bereits 2014 Abwesenheitsprozessen ermöglichte, ist dieses Verfahren in vielen Staaten unmöglich, obwohl kein internationaler Vertrag die Ausübung der Gerichtsbarkeit in Abwesenheit ausdrücklich verbietet. Im Bestreben, so schnell wie möglich Recht zu sprechen, stellt die Ukraine dennoch sicher, dass dem Angeklagten gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention ein Verteidiger zur Verfügung steht. Natürlich befinden sich die meisten Verbrecher auf russischem Territorium, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass Russland seine Staatsbürger ausliefert. Trotzdem sollten solche Fälle den Tätern die klare Botschaft vermitteln, dass ihre Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt ist, die Verantwortlichkeit unausweichlich ist und ihnen für immer eine Strafverfolgung droht. Außerdem erhalten die Opfer dadurch ein Gefühl der Anerkennung und Bestätigung. Dies entspricht einem der juristischen Grundsätze: „Aufgeschobene Gerechtigkeit ist verweigerte Gerechtigkeit.“
Es gibt Gründe anzunehmen, dass die internationale Gemeinschaft eine entscheidende Rolle spielen wird, um die Opfer in ihrem Streben nach Gerechtigkeit zu unterstützen. Im Dezember 2023 erhob das Justizministerium der Vereinigten Staaten Anklage gegen vier russische Soldaten wegen Freiheitsberaubung, Folter und unmenschlicher Behandlung eines amerikanischen Staatsbürgers während des Krieges in der Ukraine. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft stellte fest, dass „dies der erste Fall der strafrechtlichen Verfolgung russischer Kriegsverbrecher unter der Jurisdiktion ausländischer Staaten sei.“
Was Europa betrifft, wurden im Oktober 2023 in Deutschland drei Klagen wegen Kriegsverbrechen russischer Soldaten von der NGO „Clooney Foundation for Justice“ eingereicht. Die Fälle betreffen den Raketenangriff in der Nähe von Odesa, bei dem 22 Zivilisten getötet wurden, die Freiheitsberaubung und Hinrichtung von vier Männern in der Region Charkiw sowie eine Reihe von Hinrichtungen und sexuellen Gewalttaten in der Nähe von Kyjiw Anfang 2022. Wenn die deutschen Behörden die Beweise als überzeugend erachten, können sie strafrechtliche Ermittlungen einleiten, die zum Erlass von Haftbefehlen gegen die Verdächtigen führen können. Über die Systeme von Europol und Interpol kann die Vollstreckung dieser Haftbefehle weit über Deutschland hinausgehen.
Darüber hinaus wurden laut dem deutschen Bundesministers der Justiz im Verfahren bezüglich des gezielten Beschusses von fliehenden Zivilisten in Hostomel bereits fünf russische Schützen identifiziert. Frankreich hat ebenfalls eine Untersuchung eingeleitet, nachdem ein Journalist der Agence France-Presse durch eine russische Rakete in der Region Donezk getötet wurde. Auch die litauischen Strafverfolgungsbehörden untersuchen die Tötung des litauischen Filmemachers in Mariupol sowie weitere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht.
Schlussfolgerung
Russische Greueltaten, die in der Ukraine begangen wurden, haben die internationale Gemeinschaft dazu veranlasst, verschiedene Wege zu erkunden, um russische Top-Führungskräfte und untergeordnete Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Der Internationale Strafgerichtshof und potenzielle Sondertribunale sind sicherlich wichtige Mechanismen, aber das ukrainische System benötigt mehr unmittelbare Unterstützung und Entlastung. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass andere Länder die Mechanismen der universellen Gerichtsbarkeit nutzen, um Straftäter strafrechtlich zu verfolgen, Beweise für anschließende Gerichtsverfahren zu sammeln und sicherzustellen, dass die Opfer in ihren Erfahrungen anerkannt werden.
In der aktuellen Lage in der Ukraine hat die internationale Gemeinschaft viele Möglichkeiten zur Beweissammlung, da der Krieg noch andauert. Es gibt keine Hindernisse wie die Rekonstruktion uralter historischer Ereignisse oder den Zugang zu Zeugen. Viele Akteure sind an der Dokumentation russischer Kriegsverbrechen beteiligt und bereit, Beweismaterial zu teilen – von nationalen Behörden bis hin zu zivilgesellschaftlichen Organisationen. Angesichts der hohen gesellschaftlichen Erwartungen fordern mehr als 70% der Bevölkerung, dass die Verbrechen strafrechtlich verfolgt werden.
Die internationale Rechtsprechung ist ein komplexer, zeitaufwändiger und ressourcenintensiver Prozess, der durch verschiedene inhärente Herausforderungen erschwert wird. Dennoch kann die universelle Gerichtsbarkeit eine effektive Ergänzung zu den internationalen Justizmechanismen darstellen, um Täter von Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen und ein Signal zu setzen, dass der Kreislauf der Straflosigkeit letzlich durchbrochen wird.
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