Massive Stromausfälle in der Ukraine: Ein Blick ins Innere

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Der massive Beschuss der ukrainischen Energieinfrastruktur durch Russland hat zu den größten Blackouts in der Geschichte der Ukraine geführt. Nach jedem russischen Angriff kommt es sofort zu Stromausfällen im gesamten Gebiet, und der Staat taucht in Dunkelheit ein.

Auch wenn das System teilweise wiederhergestellt werden kann, können die Stromausfälle mehrere Stunden oder sogar Tage dauern, weil der Mangel an Strom oft riesig ist. In einigen Regionen kann das Stromdefizit 50-70% übersteigen. Solche Stromausfälle beeinträchtigen den Alltag der Ukraine immens, da die Menschen gezwungen sind, bei Minusgraden ohne Heizung und Licht zu leben.

Wie haben sich also massive Stromausfälle auf die ukrainische Gesellschaft ausgewirkt?

Weniger Licht – mehr Todesfälle

Stromausfälle wirken sich nicht nur auf das Privat- oder Arbeitsleben der Menschen aus, sondern auch auf deren Sicherheit auf den Straßen. Die fehlende Beleuchtung in den Städten führt zu einer Verschlechterung der Sicherheitslage, da viele stark befahrene Straßen und wichtige Kreuzungen ohne Ampeln und Straßenbeleuchtung bleiben. Nach Angaben von Andrij Molokojedow, dem Sprecher der Streifenpolizei in Kyjiw, ist die Zahl der Verkehrsunfälle seit dem 10. Oktober (dem ersten Tag der Stromausfälle) um 55% gestiegen. Er fügt hinzu, dass mehr Fußgänger in Unfälle verwickelt wurden und sich die Zahl der tödlich Verunglückten versechsfacht hat.

Um die erschreckend hohe Zahl der Unfälle und der dabei ums Leben kommenden Fußgänger zu verringern, haben die staatlichen Behörden eine Informationskampagne darüber gestartet, wie die Fußgänger aussehen sollten, damit sie für die Fahrer sichtbar sind: Es ist besser, helle Kleidung und reflektierende Elemente zu tragen.

Die ukrainische Streifenpolizei weist die Autofahrer auch an, das Standlicht, das Abblendlicht oder die Nebelscheinwerfer einzuschalten. In nur 30% der Fälle können die Fahrer einen Fußgänger im Dunkeln sehen. Wenn die Kleidung mit Reflektoren versehen ist, erreicht die Zahl 80%.

Lichtmangel erhöht die Sterblichkeitsrate nicht nur im Straßenverkehr. Aufgrund der Verwendung von Generatoren, Gasbrennern usw. brechen häufiger Brände aus, so der Staatliche Dienst der Ukraine für Notfallsituationen. Täglich kommt es zu ca. 130 Bränden, vor allem im Wohnbereich, im Durchschnitt sterben dabei 12 Menschen.

Auf der Straße: eine Person mit VS ohne reflektierende Elemente

Neue Einkaufslisten

Auch der ukrainische Markt hat Veränderungen erlebt. Der diesjährige „Black Friday“ war für die Ukrainer buchstäblich black, da sie in völliger Dunkelheit einkaufen mussten. Da der größte Verkauf des Jahres mit einem teilweisen Blackout im ganzen Land zusammenfiel, entschieden sich die meisten Kunden für Waren, die sich bei Wasser-, Strom- und Wärmeausfällen als nützlich erweisen können.

Laut Prom.ua (einer der größten Online-Shopping-Websites in der Ukraine) zählten beispielsweise diese Waren zu den Top 10 der beliebtesten Produkte am Black Friday:

  • Gasgeräte;
  • Campingausrüstung (einschließlich Taschenlampen und );
  • Computerzubehör (Powerbanks, tragbare Ladestationen usw.);
  • batteriebetriebene Lampen;
  • Spannungswandler;
  • Festbeleuchtung.

In diesem Herbst ist die Nachfrage nach Heizgeräten um das fünf- bis zehnfache gestiegen. Netzwerkverlängerungskabel, tragbare Funkgeräte und 4G-Modems mit Batterien werden ebenfalls häufiger gekauft.

Für Eltern von Neugeborenen ist es besonders schwierig, diese Umstände zu überstehen, da sie nach einer Möglichkeit suchen, ihr Kind warm zu halten, woraufhin die Nachfrage nach Thermofußsäcken für Babys steigt. Kunden begannen, mehr E-Books und Nintendo-Spielkonsolen mit Batterien zu kaufen, um sich selbst oder ihre Kinder zu unterhalten. Batteriebetriebene Weihnachtsbäume, die früher einfach zur Dekoration angeboten wurden, wurden zu einem beliebten Produkt, da sie die Räumlichkeiten beleuchten können, ohne viel Energie zu verbrauchen.

Rückgang des Internetverkehrs

Russland nimmt häufig Kommunikationseinrichtungen ins Visier, so dass nach jedem massiven Beschuss Tausende von Ukrainern keinen Internetzugang oder überhaupt keine Mobilfunkverbindung mehr haben.

Nach Angaben des Unternehmens NetBlocks, das die Cybersicherheit überwacht, wurde der Rückgang des Internetverkehrs erstmals am 10. Oktober beim ersten Massenangriff auf kritische Infrastruktureinrichtungen festgestellt. Im November waren die Kommunikationsausfälle jedoch noch drastischer. Am 23. November, nach einem weiteren Angriff, sank der Internetverkehr auf 35% des üblichen Niveaus.

Eine der Lösungen besteht darin, zwischen verschiedenen Betreibern zu wechseln, was durch Vereinbarungen zwischen ukrainischen Mobilfunkbetreibern möglich wurde. Wenn keiner der Betreiber eine verfügbare Netzwerkverbindung hat, kommen Funk oder Starlinks ins Spiel. Die Nachfrage nach Starlinks hat sich im Herbst mindestens verdoppelt, da einige Geschäftsinhaber sie gekauft haben, um ihre Büros am Laufen zu halten.

Wenn die mobile Kommunikation nicht funktioniert, bleiben die Menschen allein im Dunkeln und können nicht einmal über einen Luftalarm informiert werden. Es war also absehbar, dass die Nachfrage nach Funkgeräten und Walkie-Talkies deutlich zunehmen würde.

Eine weitere Migrationswelle?

Seit Beginn der massiven Stromausfälle und dem Sinken der Temperaturen wurde eine neue Welle ukrainischer Flüchtlinge prognostiziert. Diese Prognosen haben sich zum Teil bewahrheitet: In den letzten Wochen sind laut Grenzübergangsstatistik mehr Ukrainer nach Polen eingereist, als von dort in die Ukraine zurückgekehrt.

Inzwischen ist die Kluft zwischen diesen Zahlen nicht so drastisch, es ist also zu früh, um von einer bevorstehenden Massenabwanderung der Ukrainer ins Ausland zu sprechen. Laut einer ukrainischen Umfrage antwortete die Mehrheit (65%) auf die Frage, ob sie in der kalten Jahreszeit beim Strommangel an ihrem derzeitigen Wohnort bleiben würden, mit Ja. Ein weiterer Teil antwortete, dass sie nach einem wärmeren Ort in der Ukraine suchen würden. Nur sehr wenige Menschen (3%) bestätigten ihre Absicht, ins Ausland zu ziehen.

Auf der Suche nach Licht

Diejenigen, die trotz aller Schwierigkeiten nicht vorhaben, ihren Wohnsitz zu verlassen, suchen nach Möglichkeiten, mit den Stromausfällen zurechtzukommen.

Konzerte bei Kerzenlicht

Es ist ganz natürlich, dass die Menschen trotz allem versuchen, ihr gewohntes Leben fortzusetzen. Deshalb versuchen Ukrainer, ihre täglichen Gewohnheiten nicht aufzugeben: Sie lesen Bücher mit einer Stirnlampe, genießen das Abendessen bei Kerzenlicht, machen eine Maniküre auf dem Parkplatz oder föhnen sich die Haare im Einkaufszentrum. Um Produkte im Falle eines Stromausfalls zu retten, wenn der Kühlschrank nicht funktioniert, bringen Ukrainer sie auf den Balkon oder hängen sie aus dem Fenster. Das ist die einzig positive Seite der Winterperiode.

Das Showbusiness löste das Problem kreativ, stimmungsvolle Konzerte bei Kerzenlicht wurden zu einem neuen Trend und erwiesen sich vor allem vor Weihnachten und Neujahr als gute Alternative.

Viele von denen, die online arbeiten oder fernstudieren, nutzen auch Coworking Spaces oder „Punkte der Unbesiegbarkeit“, Orte mit Wärme, heißem Tee, Starlink und Internetverbindungsnetzwerk. In Kyjiw wurden mehrere Karten erstellt, auf denen man sehen kann, welche Einrichtungen bei Stromausfällen in Betrieb sind.

Tankstellen, Einkaufszentren und Cafés haben sich daher auch in Punkte der Unbesiegbarkeit verwandelt: sehr oft kommen Menschen dorthin, um zu studieren, zu arbeiten, Geräte aufzuladen oder im Extremfall einen Inhalator anzuschließen.

Um zu wissen, wann zu Hause der Strom eingeschaltet wird, haben kreative Bewohner in einigen Gegenden spezielle Messenger-Bots entwickelt, die darüber informieren, ob das Licht an oder aus ist. So wissen die Menschen, was zu Hause vor sich geht, während sie auf der Suche nach Strom sind.

„Bleibst du im Aufzug stecken, ist dieses Hilfe-Set für dich“

Ein weiteres interessantes Konzept, das in mehrstöckigen Gebäuden und Wolkenkratzern implementiert wird, sind Überlebenspakete, die Nachbarn sammeln und im Aufzug für diejenigen lassen, die während eines Stromausfalls plötzlich dort feststecken.

Ladestationen wurden an einigen Stationen der Kyjiwer U-Bahn installiert. Doch leider konnten sich nicht alle diese Verkehrsmittel anpassen. In Charkiw musste die U-Bahn wegen Stromausfällen mehrmals ihren Betrieb vollständig einstellen. In vielen Gebieten wurden die vom Stromnetz abhängigen öffentlichen Verkehrsmittel ersetzt oder in ihrer Anzahl reduziert, deshalb wurde der Fahrplan geändert und die Intervalle verlängert.

Blackout „is the new black“

Das Gerede von „Blackouts“ ist in der ukrainischen Gesellschaft zu einem Trend geworden. Alle, vor allem die jungen Leute, tauschen viele Witze und Lifehacks darüber aus, wie man bei Stromausfällen überleben kann. Die Ukrainer scheinen miteinander zu konkurrieren, wer den auffälligsten Ort oder die beste Möglichkeit finden kann, um Strom oder Internet zu finden. Interessant ist, dass Videos mit dem Hashtag „блекаут“ („Blackout“ oder „Stromausfall“) auf TikTok bereits fast 50 Millionen Mal aufgerufen wurden (Stand: 8. Dezember), wobei das Wort „Blackout“ bei ukrainischen Google-Anfragen im Jahr 2022 unter den Top 10 in der Kategorie „Was ist das“ steht.

Ukrainisches Handy sagt uns mehr als jeder andere

Ukrainische Handys können uns mehr über Veränderungen im Alltag der Ukrainer erzählen. Die Daten eines Pilotexperiments unter Kyjiwer Jugendlichen, die in den letzten Monaten Daten von ihren Smartphones aufgezeichnet haben, teilen uns einige interessante Details mit.

Im Allgemeinen blieb die Bildschirmzeit so hoch wie vor dem Beschuss im Oktober (10. Oktober), da für junge Menschen 6+ Stunden aktive Bildschirmzeit ziemlich normal sind. Die Taschenlampe ist eine der Funktionen, die während der Stromausfälle häufiger genutzt wurde. Sie wird sowohl zu Hause als auch auf der Straße für mindestens eine Stunde pro Tag unter den Einwohnern von Kyjiw verwendet. Das sind 11% der gesamten Bildschirmzeit. Bei denen, die über längere Zeiträume (mehr als 5 Stunden) keinen Strom haben, erreicht dieser Prozentsatz bis zu einem Viertel der Bildschirmzeit.

Ebenso begannen die Ukrainer während der Stromausfälle häufiger zu Fuß zu gehen, da sich die Fahrpläne der elektrischen Verkehrsmittel geändert haben und es keine Möglichkeit gab, Aufzüge zu benutzen. Im Vergleich zum September stieg im Oktober und November die durchschnittliche Anzahl der Schritte der Einwohner Kyjiws (über 4.000 Schritte pro Tag). Eine noch deutlichere Veränderung gab es bei der Anzahl der „erklommenen“ Stockwerke: Lag die durchschnittliche Zahl im September bei etwa 6,5, so waren es im Oktober bereits 8,1. Im November, als es Stromausfälle im Laufe des ganzen Monats gab, waren es 9,8 Stockwerke pro Tag. Natürlich hängt es davon ab, wo genau eine Person wohnt: Für diejenigen in den unteren Etagen betrug die Veränderung etwa +2 Stockwerke nach den Stromausfällen, für diejenigen, die über dem 5. Stock leben (die zuvor fast nie die Treppe genommen haben), stieg die Aktivität signifikant von 5,8 im September auf 8,8 Stockwerke im Oktober und auf bis zu 12,4 Stockwerke im November.

Für aktive Jugendliche ist dies natürlich eher eine vorteilhafte zusätzliche Bewegung, aber für ältere Menschen oder Menschen mit gesundheitlichen Problemen ist ein solches Unterfangen eine Herausforderung und ein Hindernis, das Haus überhaupt zu verlassen. Besonders groß ist das Problem für die Bewohner großer Städte (Kyjiw, Charkiw), von denen viele in 15-, 20- und 30-stöckigen Gebäuden wohnen. Auch für ukrainische Kuriere wurde die Lage zunehmend zu einer Belastung, weshalb viele Zustelldienste zu Beginn der Stromausfälle eine neue Regel eingeführt haben: Bei fehlendem Strom liefert der Kurier nicht höher als bis zum 5. Stock, wo die Kunden ihn dann treffen müssen.

Insgesamt wirkten sich die Stromausfälle auf alle Bereiche des ukrainischen Lebens aus. Der Alltag und die Gewohnheiten änderten sich. Doch trotz aller Widrigkeiten sind die Ukrainer stark genug, um diese Umstände zu ertragen und sich selbst an solche kalten und dunklen Bedingungen zu gewöhnen. Sie sind unbesiegbar und zeigen ihre Widerstandsfähigkeit im Rücken der Front.

Tetiana Skryptschenko

Alina Horbenko