„Gott ist im Urlaub, sag uns, wenn er zurück ist“: Ein Blick auf die ukrainischen und russischen Behandlungsmuster von Kriegsgefangenen

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Im Zeitalter des Postfaktischen, Informationsübersättigung und verschiedenen manipulativen Methoden im Umgang mit Daten bleibt die Informationshygiene für den internen und externen Konsum oberste Priorität. Dieser Artikel befasst sich mit:

  • Behandlung der ukrainischen Kriegsgefangenen seitens Russlands.
  • Behandlung der russischen Kriegsgefangenen seitens der Ukraine.
  • Vergleichende Analyse der Behandlung der Kriegsgefangenen durch beide Seiten im Sinne der Kerndoktrinen des humanitären Rechts.
  • Vorbehalte der internationalen Gemeinschaft hinsichtlich der Behandlung von Kriegsgefangenen in russischer Gefangenschaft.
  • Unbegründete Bedenken in Bezug auf die Verfolgung von Kämpfern durch die ukrainischen Behörden.

Es ist zu Beginn erwähnenswert, dass Russland im Gegensatz zur ukrainischen Seite, die ohne Hindernisse internationalen Experten Zugang zu den Orten der Inhaftierung russischer Kriegsgefangener gewährte, weiterhin alle Forderungen nach Zulassung unabhängiger Vertreter in die Haftorte der ukrainischen Kriegsgefangenen ablehnt. Dies verdeutlicht die berechtigten großen Vorbehalte gegenüber Russland hinsichtlich der Einhaltung internationaler Standards und die mangelnde Bereitschaft des Kremls, sich an die Grundsätze des Völkerrechts hinsichtlich Transparenz, Offenheit und Rechenschaftspflicht zu halten.

Ukrainischer Soldat im Stahlwerk Asow-Stahl, Mariupol, 16. Mai 2022. Foto: Dmytro Kosatskyj

Ukrainische Kriegsgefangene in russischer Gefangenschaft

Nach Angaben des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) verstößt die russische Seite weiterhin permanent gegen das humanitäre Völkerrecht – und zwar vom Zeitpunkt der Gefangennahme ukrainischer Soldaten bis hin zu ihrer Rückführung. Das OHCHR hat schwere Verstöße der russischen Streitkräfte bei der Gefangennahme ukrainischer Soldaten dokumentiert. In dem Bericht sind mehrere Fälle der vorsätzlichen Tötung potenzieller Kriegsgefangener durch Vertreter des russischen privaten Sicherheits- und Militärunternehmens „Gruppe Wagner“ aufgeführt, das enge Verbindungen zu Präsident Putin hat und auch als seine Privatarmee bekannt ist. Nach den dem OHCHR vorgelegten Zeugenaussagen benutzten die Wagner-Kämpfer, die in Uniform der ukrainischen Streitkräfte gekleidet waren, zwei ukrainische Kriegsgefangene, um ukrainische Stellungen in Richtung Bachmut aus dem Hinterhalt zu überfallen. Dies widerspricht definitiv den Normen des humanitären Völkerrechts, unter anderem: den Artikeln 12-16 über die Verantwortung des Staates, der Kriegsgefangene festhält und sich verpflichtet, sie entsprechend ihrem Status zu behandeln; dem Artikel 23 über die Gewährleistung der Sicherheit von Kriegsgefangenen (nach den Zeugenaussagen wurden zwei ukrainische Kriegsgefangene zusammen mit den Wagner-Kämpfern getötet); den Artikeln 49-57 des Genfer Abkommens III (GCIII), in denen die Grenzen der freiwilligen Beteiligung von Kriegsgefangenen an den relevanten Tätigkeiten klar definiert sind, nicht aber der eigentliche Militärdienst oder die Teilnahme an Operationen unter falscher Flagge.

Ein weiterer Fall betrifft die vorsätzliche Tötung eines der ukrainischen Kriegsgefangenen durch die Wagner-Kämpfer während des Verhörs, als er zugab, dass er nach Beginn der großangelegten Invasion Mitglied der ukrainischen Streitkräfte geworden war. Mit solchen blutigen Maßnahmen verstoßen die Russen eklatant gegen die Artikel 3, 17 und 87 des Genfer Abkommens III.

Unter offener Verletzung der Artikel 12-15 des GCIII über die Verantwortung für die menschliche Behandlung ukrainischer Kriegsgefangenen zwangen die Russen zwei verwundete Ukrainer, etwa einen halben Kilometer mit gebrochenen Beinen zu kriechen, ohne ihnen angemessene medizinische Versorgung zu gewährleisten (Verstoß gegen Artikel 29-32 der GCIII) und ohne einen angemessenen Transport ins Lager zu organisieren (Verstoß gegen Artikel 19-22 der GCIII). Darüber hinaus filmte das russische Militär das Leiden verwundeter ukrainischer Kriegsgefangener, um entwürdigende Posts in sozialen Netzwerken zu verbreiten, was einen Verstoß gegen die Artikel 3, 13 und 20 der oben genannten GCIII darstellt.

In einem exklusiven Interview, das während der Vorbereitung dieses Materials geführt wurde, weist auch Dmytro Lubinets, seit Juli 2022 ukrainischer parlamentarischer Menschenrechtskommissar, auf extreme Verstöße seitens Russland hin: “Alle Beweise werden von der Polizei, der Sicherheitsdienst der Ukraine und anderen zuständigen staatlichen Strukturen untersucht und gesammelt. Ich habe mit eigenen Augen Folterkammern in den befreiten ukrainischen Ortschaften in den Regionen Cherson und Charkiw gesehen. Ich weiß aus erster Hand, was dort passiert ist, was das russische Militär den Ukrainern angetan hat. Zum Beispiel gab es in der Region Cherson eine Zelle, in der Jugendliche festgehalten wurden. Sie schliefen auf dem kalten Boden, auf Karton liegend. Männer und Frauen wurden 24 Stunden täglich in einer gemeinsamen Zelle gehalten. In diesen Folterkammern wurden die Menschen auch videoüberwacht.”

Solche Haftbedingungen für Kriegsgefangene deuten auf einen Verstoß gegen die Artikel 25-28 der GCIII hin, insbesondere gegen die Bestimmungen über die Notwendigkeit, getrennte Räumlichkeiten für Männer und Frauen sowie die Grundbedürfnisse wie Unterkunft, Nahrung und die Einhaltung der angemessenen Hygienestandards zur Verfügung zu stellen.

Die Ukrainer, die aus der russischen Gefangenschaft zurückkehren konnten, berichten von schlechten Bedingungen. Sie kommen alle sehr dünn zurück. Dies deutet darauf hin, dass sie schlecht ernährt wurden. In der Gefangenschaft erhielten sie keine normale Nahrung und keine angemessene medizinische Versorgung, wie es nach den Genfer Abkommen erforderlich ist. Unsere Menschen werden anders behandelt als russische Kriegsgefangene. Viele Ukrainer, die aus der Gefangenschaft zurückkehrten, sahen an den Haftorten nicht einmal Vertreter des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes “, sagt Dmytro Lubinets.


Vor diesem Hintergrund verdient die Rückkehr der Asow-Stahl-Verteidiger aus russischer Gefangenschaft besondere Aufmerksamkeit. Der Oberfeldwebel der 36. Marinebrigade, Mychajlo Dianow, wurde schwer verwundet, als er im metallurgischen Kombinat gegen die russischen Streitkräfte kämpfte. Sein Arm war komplett zerschmettert und an beiden Beinen wurden Schusswunden festgestellt. Tränensäcke deuten auf eine lange Zeit der Dehydrierung hin, der geschwollene Magen auf einen langen Hunger. Mychajlo hat etwa ein Drittel seines Körpergewichts verloren. Die russische Seite hat Mykhailo nicht nur keine medizinische Hilfe geleistet, sondern verschlimmerte sein Leiden. Während der Verteidigung des metallurgischen Kombinats setzten ukrainische Mediziner einen Fixateur an Mykhaylos verwundetem Arm ein. In russischer Gefangenschaft wurde dieser Apparat mit schmutzigen Instrumenten ohne Betäubung ausgeschnitten und es wurde keine weitere medizinische Hilfe geleistet, um seinen Zustand zu verbessern.

„Es ist beeindruckend und gleichzeitig empörend, dass es verwundete Soldaten in Gefangenschaft gibt, die operiert und dringend medizinisch behandelt werden müssen, die notwendige Hilfe aber nicht geleistet wird. Die Soldaten, die zurückgebracht werden konnten, hatten nässende Wunden. Sie haben gesehen, in welchem Zustand Mariupol-Verteidiger Mychajlo Dianow zurückkam. An seinem verletzten Arm fehlen 4 cm Knochen. Es ist schwer, sich den Schmerz vorzustellen, den er ertragen musste”, sagt der ukrainische Ombudsmann.

Das OHCHR hat auch den Tod eines ukrainischen Kriegsgefangenen registriert, der aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung gestorben ist, die im Rahmen der Bestimmungen der GCIII hätte bereitgestellt werden müssen. Aus dem gleichen Grund starben im April mehrere weitere Schwerverletzte auf dem Weg zum Durchgangslager in Sartana (Region Donezk). Die Transportbedingungen der ukrainischen Soldaten sind ebenfalls sehr besorgniserregend, da sie in überfüllten Lastwagen und Bussen transportiert wurden, die nicht für die Unterbringung von Personen bestimmt waren, wobei der Zugang zu Toiletten und Wasser vollständig verwehrt wurde. Die Gesichter der Gefangenen waren mit Klebeband gefesselt, so dass viele offene Wunden noch tagelang bluteten. Die Hafteinrichtungen befinden sich sowohl auf dem Territorium Russlands als auch auf dem von Russland besetzten ukrainischen Gebiet. Die Orte selbst sind nicht für die Unterbringung von Kriegsgefangenen ausgestattet, verfügen nicht über angemessene Außenanlagen für Kriegsgefangene und benötigen dringend eine Grundausstattung.

Mychajlo Werschynin (links), Leiter der Patrouillenpolizei der Stadt Mariupol, und der Polizist Swjatoslaw Jermolajew (rechts) kehrten mit starkem Gewichtsverlust aus der Gefangenschaft zurück, wie Fotos ukrainischer Kriegsgefangener vor und nach russischen Lagern belegen.

Die Berichte ukrainischer Soldaten, die aus der Gefangenschaft zurückkehrten, werden von ausländischen Freiwilligen bestätigt, die auch russische Lager überleben mussten. So bestätigte der britische Paramedic John Harding, der sich im metallurgischen Kombinat Asow-Stahl befand und ebenfalls gefangen genommen wurde, dass Folter, die Verwendung von elektrischem Strom während der Verhöre, Stichwunden und ständige Schläge regelmäßig von Russen bei der Gefangenenhaltung angewandt wurden. Den Erinnerungen des Briten zufolge wurden mehreren Gefangenen winzige Zimmer zugewiesen, die Russen übten ständigen psychologischen Druck aus und zwangen sie, Abschiedsvideos für ihre Familien aufzunehmen. Das ist ein enormer Verstoß gegen Artikel 69-70 der GCIII, nach den die Kriegsgefangenen eine Verbindung mit der Außenwelt haben müssen, die inhaftierende Partei muss also auf jede mögliche Weise die Kommunikation zwischen Gefangenen und ihren Angehörigen ermöglichen, jedoch nicht mit Waffengewalt und schon gar nicht in Form von „letzten Worten“. Laut John wurde er Zeuge der Ermordung eines anderen britischen Bürgers, Paul Urey, durch die Russen. Viele Spuren von Folter wurden am Körper des Verstorbenen gefunden, trotz der falschen Angaben der russischen Seite über den bereits schlechten Gesundheitszustand. 

Zu den berüchtigten Orten der Internierung ukrainischer Kriegsgefangener gehört auch das Gefängnis in Oleniwka, wo Russland am 29. Juli 2022 scheinbar einen weiteren Terroranschlag verübte. Durch eine Explosion sind 50 ukrainische Kriegsgefangene ums Leben gekommen. So versuchten die Russen die blutigen Spuren von Folter, körperlicher, sexueller und moralischer Gewalt an den internierten Ukrainern zu verbergen.

Außerdem interniert Russland auch die Zivilbevölkerung, so der ukrainische parlamentarische Menschenrechtskommissar Dmytro Lubinets. Dies sei ein empörender Verstoß gegen den Artikel 4 der GCIII: “Die Genfer Abkommen, deren Hauptzweck der Schutz von Personen ist, die nicht am bewaffneten Konflikt teilnehmen, also der Zivilbevölkerung, sehen überhaupt nicht vor, dass Zivilisten gefangen genommen werden können. Wir sind jedoch im Krieg mit Russland, und viele unserer Bürger befinden sich in der Russischen Föderation in Gefangenschaft. Das ist der zynischste Verstoß!”

Ein Foto von einer Baracke im Gefängnis Oleniwka, die am 29.
Juli 2022 durch eine Explosion zerstört wurde. Mindestens 50
Kriegsgefangene, darunter viele Verteidiger des Stahlwerks
Asow-Stahl, die nach ihrer Kapitulation vor Russland unter den
Garantien der UN und des IKRK evakuiert wurden, starben
vor Ort.

Zu all diesen von Russland begangenen Kriegsverbrechen kommt hinzu, dass der internationalen Gemeinschaft bislang kein Strafverfahren der russischen Seite zur Bestrafung von Personen bekannt ist, die direkt an solchen unmenschlichen Praktiken gegen ukrainische Kriegsgefangene beteiligt waren. Grobe Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht zeugen einmal mehr vom fehlenden Raum für Verhandlungen mit dem terroristischen Staat, der weiterhin nichts weniger als ewiges Leid, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bringt.

Russische Kriegsgefangene in ukrainischer Gefangenschaft

Die Ukraine verfügt derzeit über 50 spezialisierte Einrichtungen für die Inhaftierung von Kriegsgefangenen. Diese Einrichtungen sind mit einem angemessenen Niveau von Sicherheitsmaßnahmen gesichert (soweit dies unter den Bedingungen von massiven Angriffen durch russische ballistische Raketen und iranische Drohnen möglich ist) und erfüllen alle in den völkerrechtlichen Konventionen verankerten Anforderungen. Ein erstaunliches Beispiel für solche Einrichtungen ist das Lager „West-1“, in dem russische Kriegsgefangene nicht nur mit Grundbedürfnissen versorgt werden, sondern auch die Möglichkeit haben, sich sowohl körperlich als auch geistig weiterzuentwickeln, was in russischer Gefangenschaft nicht einmal zur Debatte steht. Darüber hinaus haben russische Kriegsgefangene Zugang zu medizinischer Versorgung, moderater Beschäftigung und einer Vielzahl von Freizeitaktivitäten. Außerdem können russische Gefangene im Gegensatz zu Ukrainern in russischer Gefangenschaft ständig mit ihren Verwandten und Freunden kommunizieren.

Ukrainisches Lager für russische Kriegsgefangene, Quelle: Telegraf

Die ukrainische Seite erkennt an, dass Kriegsgefangene in sehr seltenen Fällen in Untersuchungsgefängnissen festgehalten werden. Sie sind jedoch mit allen notwendigen Haushaltsgegenständen versorgt und bleiben dort nicht länger als es die Umstände erfordern. Die ukrainische Seite empfängt regelmäßig Vertreter der UNO, des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK), ausländische Journalisten und Experten, um unparteiisch über die Ereignisse zu berichten. Gleichzeitig blockiert Russland weiterhin alle Versuche, Zugang zu den Orten der Internierung ukrainischer Kriegsgefangener zu erhalten, insbesondere nach dem von den Besatzungsbehörden verübten Terroranschlag in Oleniwka.

Zum visuellen Vergleich kann man sich nur die Fotos des Austauschs von Kriegsgefangenen ansehen (russisch links; ukrainisch rechts), die nach Hause zurückkehren. Man sieht sofort, wie erschöpft, abgemagert und von Folterspuren gezeichnet die ukrainischen Verteidiger sind, während die russischen Kriegsgefangenen ziemlich gesund aussehen und in angemessener körperlicher Form sind.

Austausch von russischen (links) und ukrainischen (rechts) Kriegsgefangenen

“Das Justizministerium gab bekannt, dass ein Kriegsgefangener 3.000 UAH (ca. 77 EUR, 82 USD) monatlich für Lebensmittel, Kleidung, Hygieneartikel und Kosten für die Versorgung braucht. Zu den Nebenkosten gehören Ausgaben für medizinische Geräte, Medikamente und Gehälter des Personals. Solche Ausgaben sind aber gerechtfertigt, weil die Haftbedingungen für Kriegsgefangene der Genfer Abkommen entsprechen müssen. Lebendige und gesunde russische Gefangene sind auch ein notwendiges Austauschmaterial, um gefangene Ukrainer zurückzubekommen”, stellt der ukrainische parlamentarische Menschenrechtskommissar fest.

Trotz der oben genannten Fakten hat die ukrainische Seite wiederholt Vorwürfe der unpassenden Behandlung russischer Kriegsgefangener erhalten. Nach demselben Bericht des OHCHR wird die ukrainische Seite verdächtigt, Foltermethoden anzuwenden und die Kämpfer der mit Russland verbundenen Gruppen („LNR“ und „DNR“) illegal zu verfolgen. Der Bericht enthält jedoch auch Informationen, dass die ukrainische Seite ziemlich schnell auf solche Vorwürfe reagiert und sofort Strafverfahren gegen Personen eingeleitet hat, die an solchen Praktiken beteiligt sein könnten. Die im Bericht des OHCHR aufgeführten Informationen werden derzeit überprüft. Wie der ukrainische Ombudsmann bereits erwähnt hat, werden alle Fakten über Verstöße von ukrainischen Strafverfolgungsbehörden aufgezeichnet und werden sicherlich überprüft, um die Schuldigen zu finden und zu bestrafen. Im Falle Russlands gibt es keine Strafverfahren gegen Personen, die grob gegen die Genfer Abkommen verstoßen. Darüber hinaus nutzt die russische Seite jede Gelegenheit, um die ukrainischen Behörden zu diskreditieren, insbesondere wenn es um die Behandlung von Kriegsgefangenen geht. Auf diese Weise versucht die gut funktionierende Maschinerie der russischen Propaganda, den Unterschied zwischen dem Opfer und dem Aggressor zu verwischen, indem sie die Personen zu Opfern macht, die auf Befehl des Kremls weiterhin an aggressiven Aktionen teilnehmen, sowie den Fokus auf die ukrainische Seite verlagert, wobei sie grobe Verstöße auf ihrer eigenen [russischen] Seite völlig ignoriert.

Zudem sollten die unberechtigten Anschuldigungen gegen die ukrainische Regierung bezüglich der angeblich illegalen Verfolgung ukrainischer Bürger, die sich den russischen Streitkräften angeschlossen haben, sorgfältig überprüft werden. Diese Vorwürfe wurden vom OHCHR in den Schlussbemerkungen seines Berichts geäußert. Das OHCHR äußerte sich besorgt über diese Rechtspraktiken der ukrainischen Regierung und berief sich auf die angebliche Immunität der Kombattanten nach den Bestimmungen des humanitären Völkerrechts. Tatsächlich gilt jedoch gemäß Artikel 87 des Genfer Abkommens III die Immunität der Kriegsgefangenen für Gefangene, die nicht Staatsangehörige des Aufnahmestaates sind. Daher sollte das Vorrecht bei der Lösung dieses rechtlichen Konflikts der Theorie der Staatsbürgerschaft eingeräumt werden, die im Rahmen der ukrainischen nationalen Gesetzgebung klar umrissen ist, die unter strikter Übereinstimmung mit internationalen Standards entwickelt wurde. In diesem Zusammenhang betrachten wir die Entscheidung für die Staatsbürgerschaft im Falle der Übertragung von Territorium unter der Gerichtsbarkeit eines anderen Staates, vorausgesetzt, dass dieses Gebiet in Übereinstimmung mit den Normen international anerkannter Konventionen abgegrenzt ist. Dieser Mechanismus bietet mehrere Möglichkeiten, die Frage der Staatsbürgerschaft von Bewohnern eines solchen Gebiets zu regeln:

  1. automatischer Entzug der Staatsbürgerschaft des Staates, der das Territorium übergibt, und Erwerb der Staatsbürgerschaft des Staates, der das betreffende Gebiet erhält;
  2. Wahrung der Entscheidungsfreiheit der Bürger.

Nichtsdestotrotz kann die Situation mit der illegalen Besetzung ukrainischer Gebiete durch Russland nicht auf der Grundlage dieser Überlegungen geregelt werden, weil Russland ein Aggressorstaat ist und versucht, ukrainische Gebiete ohne internationale Rechtsgrundlage gewaltsam zu annektieren. Aus diesem Grund betrachtet die Ukraine gemäß dem Gesetz der Ukraine „Über die Gewährleistung der Rechte und Freiheiten der Bürger und des Rechtssystems in dem vorübergehend besetzten Gebiet der Ukraine“ weiterhin ukrainische Bürger, die in den besetzten Gebieten leben und die russische Staatsbürgerschaft erhalten haben als solche, ohne ihnen den Status eines ukrainischen Bürgers zu entziehen. Dies bedeutet auch, dass Einzelpersonen wegen Staatsverrats vor Gericht gebracht werden können, wenn dies bei einer bestimmten Person der Fall war. Die zahlreichen Vorwürfe gegen die ukrainische Regierung wegen der strafrechtlichen Verfolgung von Ukrainern, die sich auf die Seite Russlands gestellt haben, sind also rechtlich völlig gerechtfertigt und können nicht mit dem Verweis auf die Normen des humanitären Völkerrechts angefochten werden.

Blickt man hinter die Kulissen des Umgangs der ukrainischen Seite mit Kriegsgefangenen, so stellt sich kaum die Frage, warum sich die Mehrheit der russischen Soldaten freiwillig der Ukraine ergeben hat. Für die Russen bleibt dies eine der wenigen Möglichkeiten, ihr Leben zu retten, und für einige auch die Chance, sich einen grundlegenden Lebensstandard zu verschaffen. Ukrainische Kriegsgefangene erinnert die Erfahrung in russischer Gefangenschaft in vielerlei Hinsicht an unheimliche Erinnerungen aus den Konzentrationslagern, die das Dritte Reich im vorigen Jahrhundert organisiert hat. Es ist wirklich beängstigend, sich vorzustellen, wie viele weitere Geschichten auf unserem Weg zu und nach dem Sieg ans Licht kommen werden.

Angesichts der erheblichen Unterschiede in den Haftbedingungen für Kriegsgefangene durch die ukrainische und russische Seite hat die Ukraine jedes Recht, sich auf die Bestimmungen der Artikel 109-114 der GCIII zu berufen, die sich auf die Rückführung ukrainischer Kriegsgefangener in ein drittes neutrales Land beziehen, das in der Lage wäre, sich um die ontologische Sicherheit der Soldaten zu kümmern. Kyjiw appellierte wiederholt an Vertreter der russischen Regierung, erhielt aber im Gegenzug nur ständige Blockaden jeglicher Initiativen. Die letzte enthielt den Vorschlag, die Schweiz als drittes neutrales Schutzland einzubeziehen. Die zahlreichen Vorwürfe des Kremls, die Schweiz habe die Neutralität aufgegeben, weil sie sich den gegen Russland verhängten Sanktionen angeschlossen habe, brachten jedoch nichts Konstruktives, sondern konservierten nur die für Russland übliche Zögerlichkeit und Untätigkeit in dieser Richtung.

Momentan will die ukrainische Seite jede Gelegenheit nutzen, um mit dem Heiligen Stuhl als einem der potenziellen Garanten für die Sicherheit der ukrainischen Kriegsgefangenen entsprechende Vereinbarungen zu treffen. Alle Bemühungen in dieser Richtung werden nur zu begrüßen sein, ebenso wie alle Bemühungen, den Sieg der Ukraine näher zu bringen und den russischen imperialistischen Ambitionen ein Ende zu setzen. 

Anastasiia Wosowytsch