Verteidigungsaufbau in einer postamerikanischen europäischen Sicherheitsordnung: Ukrainische Integration, Lastenteilung und die neue transatlantische Realität

Vitalii Rishko

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  • Europa muss dringend autonome Verteidigungsfähigkeiten aufbauen, um sich selbst schützen zu können und den Druck auf die USA zu verringern. Die EU kann sich nicht länger vollständig auf amerikanische Sicherheitsgarantien verlassen. Russlands Krieg gegen die Ukraine sowie die strategische Neuausrichtung Washingtons auf Asien und den Nahen Osten machen eine postamerikanische europäische Sicherheitsordnung sowohl wahrscheinlicher als auch dringlicher.
  • Die Ukraine ist keine Belastung, sondern ein entscheidender Beiträger zur europäischen Verteidigung. Mit einem widerstandsfähigen und schnell wachsenden Verteidigungssektor, insbesondere im Bereich Artillerie, Munition, Drohnen und gemeinsamer Unternehmungen mit europäischen Partnern entwickelt sich die Ukraine zu einem industriellen und operativen Rückgrat der europäischen Sicherheit.
  • Die EU hat die richtigen strategischen Dokumente erarbeitet, steht jedoch vor erheblichen Herausforderungen bei der Umsetzung. Vom Strategischen Kompass über den ReArm Europe Plan bis hin zur SAFE-Initiative verfügt die EU über ein Rahmenwerk, steht aber noch immer vor rechtlichen, finanziellen und politischen Hürden, um eine umfassende Verteidigungsintegration zu erreichen.
  • Eine engere verteidigungsindustrielle Zusammenarbeit zwischen der EU und der Ukraine ist auch ein strategischer Gewinn für die USA, der von amerikanischen Entscheidungsträgern unterstützt werden muss. Eine größere europäische Selbstständigkeit in Sicherheitsfragen ermöglicht es Washington, sich stärker auf den Indo-Pazifik zu konzentrieren, ohne Europa verwundbar zurückzulassen. Die Unterstützung dieses Prozesses ist eine strategische Investition für die Entscheidungsträger der USA und die globalen Interessen Amerikas.
  • Eine neue Roadmap ist erforderlich. Eine transatlantische Roadmap, die zwischen der EU, den USA (NATO), der Ukraine und weiteren engen Partnern gemeinsam vereinbart wird, sollte Klarheit über Lastenteilung, zeitlich festgelegte Ziele und Verantwortlichkeiten in der Verteidigungsproduktion für das kommende Jahrzehnt schaffen. Falls ein umfassender Rückzug der USA aus Europa stattfinden soll, sollte er gut geplant, einvernehmlich vereinbart, schrittweise und geordnet erfolgen.

Einleitung: Warum Europa angesichts der US-Neuausrichtung und Russlands Krieges seine Verteidigungskapazitäten ausbauen muss

Die Frage nach dem Aufbau einer europäischen Verteidigung ist so alt wie der Prozess der europäischen Integration selbst. Was nach dem Zweiten Weltkrieg als friedensorientiertes Projekt zur Gewährleistung von Stabilität auf dem Kontinent begann, entwickelte sich zu den Europäischen Gemeinschaften und später zur Europäischen Union (EU), deren Ziel die Institutionalisierung des Friedens war. Zuerst konzentrierte sich das europäische Projekt auf die wirtschaftliche Verflechtung und Integration nationaler Schlüsselindustrien, insbesondere Kohle und Stahl, die auch für die Rüstungsproduktion relevant sind, um einen weiteren Kriegsausbruch unwahrscheinlich zu machen. Für die Sicherheit, einschließlich des nuklearen Schutzschirms, sorgten größtenteils die Vereinigten Staaten (USA).

Während des Kalten Krieges konnte sich die EU auf den Aufbau gemeinsamer nichtmilitärischer Politiken konzentrieren und verfolgte eine zurückhaltende Sicherheitsstrategie sowie nutzte ihre wirtschaftliche und normative Macht. Gleichzeitig wurde die Verteidigung und Sicherheit Europas größtenteils an die USA und die NATO ausgelagert.

Trotz wiederkehrender Vorschläge zur Gründung einer Europäischen Verteidigungsunion (EDU), die Europas Abhängigkeit von US-Sicherheitsgarantien verringern sollte, stießen solche Initiativen regelmäßig sowohl in Europa als auch paradoxerweise in Washington selbst immer wieder auf Widerstand. US-Politiker wiesen häufig auf die Gefahr einer „Duplizierung der NATO-Funktionen“ hin. Dieses langjährige Missverständnis zwischen den USA und Europa, sowie ein Mangel an vorausschauender strategischer Planung und Vertrauen, führten dazu, dass der europäischen Verteidigung immer weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Nach dem Kalten Krieg und in Abwesenheit einer als unmittelbar empfundenen Bedrohung durch Russland sanken die europäischen Verteidigungshaushalte, die Streitkräfte stagnierten und der strategische Fokus auf konventionelle Sicherheit ging zunehmend verloren.

Heute jedoch ist der Aufbau europäischer Verteidigungsfähigkeiten, sei es durch die EDU, eine umfassendere strategische Autonomie der EU oder die Stärkung der europäischen Säule innerhalb der NATO, dringlicher denn je. Russlands großangelegter Krieg gegen die Ukraine hat eine direkte militärische Bedrohung für Europa wieder auf die Tagesordnung gebracht. Nicht zuletzt hat NATO-Generalsekretär Mark Rutte kürzlich erklärt, dass gestützt auf die stark zunehmende Rüstungsproduktion Russland in den nächsten fünf Jahren ein NATO-Mitglied angreifen könnte. Diese Einschätzung wird auch von mehreren europäischen Nachrichtendiensten, darunter auch dem deutschen, geteilt. Gleichzeitig hat die sich wandelnde globale Machtbalance die USA dazu veranlasst, ihre sicherheitspolitischen Prioritäten neu auszurichten. Aufgrund der Spannungen im Nahen Osten und der Herausforderung, seinen wichtigsten strategischen Konkurrenten – China – in Schach zu halten, ist Washington nun mit zu knappen Ressourcen konfrontiert.

Diese Analyse beschreibt die zentralen Entwicklungen, die den Wiederaufbau der europäischen Sicherheitsarchitektur im Kontext eines möglichen US-Rückzugs aus dem europäischen Verteidigungsbereich und einer stärkeren Hinwendung Asiens prägen. Einige Analysten bezeichnen diesen Zeitpunkt bereits als Wendepunkt, an dem sich die EU auf eine sogenannte postamerikanische europäische Sicherheitsordnung vorbereiten muss.

Angesichts der anhaltenden Aggression Russlands gegen die Ukraine und der Weigerung des Kremls, sich trotz der Bemühungen des US-Präsidenten Donald Trump um Verhandlungen ernsthaft auf diplomatische Prozesse einzulassen, untersucht der Autor dieses Artikels, wie Europa gemeinsam mit der Ukraine den andauernden Herausforderungen des Krieges und des nachlassenden Engagements der USA bewältigen kann. Ziel ist es, ein höheres Maß an Autonomie zu erreichen und gleichzeitig die kontinuierliche Unterstützung für Kyjiw aufrechtzuerhalten, wobei gleichzeitig betont wird, dass die Amerikaner auf dem Laufenden bleiben müssen.

Entwicklung europäischer Verteidigungsarchitektur: Von der Debatte zur umfassenden langfristigen Strategie?

Wie bereits erwähnt, haben langjährige Spannungen und Missverständnisse zwischen Europa und den USA in Bezug auf die Notwendigkeit, dass Europa mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit übernimmt, den Bereich erheblich beeinflusst. Tatsächlich hat diese Dynamik das Potenzial der EU, eine sinnvolle Verteidigungsintegration voranzutreiben, erheblich ausgebremst. Einerseits forderten die USA Europa seit Langem auf, durch den Ausbau eigener Verteidigungsfähigkeiten den Druck auf amerikanische Ressourcen zu verringern und das NATO-Ziel von 2 % des BIP für Verteidigungsausgaben zu erreichen. Andererseits kritisierte Washington europäische Regierungen regelmäßig, sobald konkrete Initiativen vorgelegt wurden, mit dem Argument, diese könnten in den Zuständigkeitsbereich der NATO eingreifen. Diese Ambivalenz trug zu massiven Kürzungen der Verteidigungsbudgets in Europa, zur Verlangsamung der heimischen Rüstungsproduktion, zur Schwächung der Infrastruktur und letztlich zu veralteten und schwer mobilisierbaren Streitkräften bei. Infolgedessen verlor die EU zwischen 1992 und den frühen 2000er Jahren deutlich an Schwung beim Aufbau einer robusteren Verteidigungs- und Sicherheitsposition. Ein weiteres Problem ist der anhaltende Skeptizismus in der europäischen Öffentlichkeit und unter politischen Entscheidungsträgern hinsichtlich einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben, selbst angesichts eines großen Krieges an den Grenzen der EU.

In der heutigen transatlantischen Realität verfolgt Washington einen Kurs der Reduzierung seines Engagements in der europäischen Sicherheit und beabsichtigt, seine militärische Unterstützung für die Ukraine deutlich zu begrenzen, höchstwahrscheinlich, um eigene Ressourcen für den strategischen Schwenk in Richtung Asien zu schonen. Diese amerikanische Vision basiert auf dem Ziel, besser auf einen möglichen Konflikt im Indo-Pazifik, insbesondere rund um Taiwan, vorbereitet zu sein. Unter diesen Umständen erscheint die NATO-Vorgabe von 2 % des BIP für Verteidigungsausgaben nicht mehr ausreichend, um Europas Sicherheit zu gewährleisten. Was jetzt gebraucht wird, ist eine umfassendere, konsistente, vorausschauend geplante und klar kommunizierte Strategie, um europäischen Regierungen Erfolg im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich zu ermöglichen.

Dies ist aus mehreren Gründen von entscheidender Bedeutung. Erstens muss die EU Wege finden, ihre eigene Sicherheit angesichts eines schwindenden amerikanischen Engagements zu gewährleisten. Zweitens muss die EU in der Lage sein, die Ukraine militärisch vollständig oder zumindest weitgehend selbst zu unterstützen, insbesondere, solange keine diplomatische Lösung in Sicht ist. Drittens besteht eine der zentralen Lehren aus dem russischen Krieg gegen die Ukraine darin, dass eine übermäßige Abhängigkeit von externen Lieferanten und sogar den vertrauenswürdigsten Partnern gefährlich sein kann. Lieferketten können im Kriegsfall anfällig oder eingeschränkt sein. Daher muss die EU ihre eigene Rüstungsproduktion erheblich ausweiten, ihre verteidigungsindustrielle Basis revitalisieren und sicherstellen, dass gemeinsame Beschaffung, Herstellung und Interoperabilitätsmechanismen vollständig etabliert und einsatzbereit sind.

Seit dem Beginn der großangelegten Invasion Russlands in die Ukraine 2022 hat die EU eine Reihe bedeutender Transformationen durchlaufen. Der Ton und die Akzente, die von den Spitzen der EU-Institutionen gesetzt wurden, wie z.B. Ursula von der Leyens Vision einer geopolitischen Kommission, unterstreichen die Notwendigkeit, dass die EU als globaler sicherheitspolitischer Akteur auftritt: als Verteidigerin von Frieden, Freiheit und Demokratie sowie als langfristiger Sicherheitspartner der Ukraine.

Parallel dazu hat eine breite Debatte zwischen den EU-Mitgliedstaaten, den Institutionen und der Öffentlichkeit zur Verabschiedung mehrerer zentraler Strategien und Rahmenwerke geführt, die den Übergang der Union hin zu einer stärkeren Verteidigungsrolle begleiten sollen. Dennoch steht der Aufbau einer gemeinsamen europäischen Verteidigung weiterhin vor erheblichen rechtlichen, politischen und technischen Herausforderungen. Zu den größten Hindernissen zählt die Spannung zwischen dem nationalen Vorrecht im Verteidigungsbereich (verankert in Art. 4 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union) und der intergouvernementalen Natur der EU-Verteidigungspolitik, die einen Konsens aller 27 Mitgliedstaaten voraussetzt. Gerade in Krisenzeiten erweist sich dieses Verfahren häufig als zu langsam und politisch eingeschränkt.

Zu den wichtigsten strategischen Dokumenten, die seit Februar 2022 verabschiedet wurden, gehört Ein Strategischer Kompass für Sicherheit und Verteidigung. Er stellt den ersten bedeutenden Schritt dar, die EU als glaubwürdigen globalen Sicherheitsakteur zu positionieren. Der Kompass enthält eine gemeinsame strategische Bedrohungsanalyse, beschreibt eine angestrebte strategische Kultur und benennt konkrete Maßnahmen, mit denen die Sicherheits- und Verteidigungsfähigkeiten der EU bis 2030 gestärkt werden sollen.

Von der Vision zur Aktion: Werkzeuge, Prioritäten und die Politik der Umsetzung

Zur Unterstützung der verteidigungsindustriellen Kapazitäten waren die Verabschiedung der Europäischen Verteidigungsindustriestrategie (EDIS) und des Europäischen Programms für die Verteidigungsindustrie (EDIP) von zentraler Bedeutung. Diese Initiativen setzen langfristige Ziele, etwa zur Förderung gemeinsamer Beschaffung von Verteidigungsgütern, zur Stärkung des innereuropäischen Handels sowie zur Verwirklichung der übergeordneten Vision von „europäisch produzieren und kaufen“.

Eines der jüngsten und einflussreichsten Dokumente ist das „Weißbuch zur Zukunft der europäischen Verteidigung – Bereitschaft 2030“, das von der neuen EU-Kommissionsspitze vorgestellt wurde: Der Hohe Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Kaja Kallas und dem Kommissar für Verteidigung und Weltraum, Andrius Kubilius. Dieses Weißbuch setzt Anreize zur Fähigkeitsentwicklung als Reaktion auf kurz- und langfristige Bedrohungen. Es spiegelt auch die Realität der anhaltenden Aggression Russlands und das potenzielle Risiko seines militärischen Erfolgs angesichts des nachlassenden Engagements der USA wider. Es fordert eine verstärkte Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten, größere gemeinsame Beschaffung sowie eine engere Kooperation mit der europäischen Rüstungsindustrie durch gebündelte Nachfrage und langfristige Verträge.

Darüber hinaus betont das Dokument die Bedeutung internationaler Partnerschaften, insbesondere die enge Abstimmung mit den USA, dem Vereinigten Königreich, Norwegen, Kanada, der Türkei und anderen gleichgesinnten Ländern in der Nachbarschaft der EU, einschließlich der Ukraine. Es schließt außerdem strategische Partner im Indo-Pazifik, wie Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland, ein. Von zentraler Bedeutung ist zudem die koordinierte Zusammenarbeit zwischen EU und NATO, um die europäische Sicherheit zu stärken. Dabei wird klar hervorgehoben, dass Maßnahmen auf EU-Ebene den europäischen NATO-Mitgliedern helfen können, die verteidigungspolitischen Ziele des Bündnisses zu erfüllen.

Besonders wichtig ist, dass das Weißbuch sieben vorrangige Bereiche für den weiteren Fähigkeitsausbau bestimmt:

  1. Luft- und Raketenabwehr
  2. Artilleriesysteme
  3. Munition und Raketen
  4. Drohnen- und Anti-Drohnen-Systeme
  5. Militärische Mobilität
  6. Künstliche Intelligenz, Quanten-, Cyber- und elektronische Kampfführung
  7. Strategische Voraussetzungen und Schutz kritischer Infrastrukturen, einschließlich strategischer Lufttransport, Luftbetankung, maritime Lageerfassung und Schutz von Weltraumressourcen

Viele dieser Prioritäten basieren auf den Lehren aus dem Verteidigungsbedarf der Ukraine im Krieg sowie auf der Einsicht der EU, dass sie ihre Abhängigkeit von US-Fähigkeiten reduzieren muss. So lobenswert und gut gemeint dieses Ziel auch ist, eine vollständige Ersetzung der US-Fähigkeiten in naher bis mittlerer Zukunft ist weder realistisch noch machbar.

Laut dem Bericht des Internationalen Institut für Strategische Studien „Defending Europe Without the United States: Costs and Consequences“ müsste die EU mindestens 1 Billion US-Dollar investieren, um zentrale derzeit von den USA bereitgestellte militärische Fähigkeiten im Rahmen der NATO zu ersetzen. Ein solcher Wandel steht vor enormen Hürden, beginnend mit fehlender Finanzierung, mangelndem politischem Willen und divergierenden Sicherheitswahrnehmungen innerhalb der EU-Mitgliedstaaten. Diese Ausgangsbedingungen erklären, warum die EU unter Berücksichtigung rechtlicher Beschränkungen und nationaler Souveränität VS Sicherheit möglicherweise auf „Koalitionen der Willigen“ setzen muss, um zumindest teilweise US-Fähigkeiten zu ersetzen.

Unter den sieben im Weißbuch genannten Fähigkeitsbereichen könnten bestimmte strategische Befähigungsfunktionen für einen schrittweisen Ersatz vorrangig behandelt werden. Die Finanzierung dieses Vorhabens könnte durch neue EU-Instrumente wie den ReArm Europe Plan, innovative Finanzierungsmechanismen und Darlehensmodelle wie die neu eingeführte Sicherheitsaktionen für Europa (SAFE) unterstützt werden. Auch die EU-Ukraine-Arbeitsgruppe für die Zusammenarbeit in der Verteidigungsindustrie wurde zu diesem Zweck ins Leben gerufen.

Insgesamt bietet die sich entwickelnde Verteidigungs- und Sicherheitsarchitektur der EU ein solides Fundament zur Verringerung der Abhängigkeit von US-Verpflichtungen und zur Neuausrichtung der Lastenteilung im transatlantischen Raum. Allerdings werden gute Strategien nicht automatisch umgesetzt. Viele der oben genannten Herausforderungen bleiben bestehen. Daher ist es dringend erforderlich, eine gemeinsame, einheitliche und umfassende Roadmap zu entwickeln, die von der EU, der NATO, den USA und weiteren Partnern gemeinsam unterstützt wird. Dieses Dokument sollte festlegen, wie alle beteiligten Akteure gemeinsam auf die sich verschiebenden globalen Machtverhältnisse zwischen den USA und China bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Drucks auf Russland und fortgesetzter Unterstützung für die Ukraine reagieren können. Eine solche Roadmap sollte die Perspektiven und Beiträge wichtiger Partner wie der Ukraine, des Vereinigten Königreichs, Norwegens und der Türkei einbauen.

Die sich entwickelnde Verteidigungsarchitektur der EU bietet kein Ersatz für die Vereinigten Staaten, sondern ein Weg, die transatlantische Partnerschaft auf eine widerstandsfähigere und fähigere europäische Basis neu auszurichten. Ein solcher Wandel würde es Washington ermöglichen, seine sicherheitspolitische Neuausrichtung auf andere Regionen verantwortungsvoll umzusetzen, ohne die Ostflanke der NATO zu gefährden. Wenn die USA Europas derzeitigen Kurs in der Verteidigungspolitik anerkennen und unterstützen, kann dies zur Stabilisierung der transatlantischen Beziehungen beitragen und ein Chaos in der Sicherheitspolitik Europas verhindern, insbesondere im Falle eines plötzlichen und unkoordinierten US-Rückzugs vom Kontinent. Darüber hinaus könnte eine tiefere EU–Ukraine-Integration in der Rüstungsproduktion und operativen Planung auch Chancen für die US-Industrie eröffnen und die Abschreckung der Alliierten in Europa, im Nahen Osten, im Indo-Pazifik und anderswo stärken. Für US-amerikanische Entscheidungsträger ist die Unterstützung dieses Prozesses keine Konzession – sie ist eine strategische Investition in die Zukunft einer stärkeren, nachhaltigeren transatlantischen Partnerschaft.

Der nächste Abschnitt dieser Analyse befasst sich mit der sich wandelnden Rolle der Ukraine in der europäischen Verteidigung, den Vorteilen einer engeren EU–Ukraine-Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich sowie den Möglichkeiten, wie gemeinsame Produktion und Integration der EU dabei helfen könnten, echte Fortschritte in Richtung strategischer Autonomie zu erzielen und dabei dennoch die zentrale Rolle der USA in der europäischen Sicherheitsarchitektur zu bewahren.

Die Ukraine als Speerspitze der europäischen Verteidigung: Integration, Innovation und strategische Resilienz ihres Verteidigungssektors

Die Integration der Ukraine in verschiedene verteidigungsorientierte Kooperationsformate gemeinsam mit anderen Nicht-EU-Staaten stellt einen entscheidenden Meilenstein und eine strategische Notwendigkeit beim Aufbau einer gemeinsamen europäischen Produktionsbasis und Beschaffungsökosystem dar. In diesem Zusammenhang ist die Ukraine nicht bloß ein Nutznießer, sondern ein aktiver Mitgestalter eines sichereren europäischen und transatlantischen Raums. Dies ist vor allem dem dynamischen, widerstandsfähigen und zunehmend innovationsgetriebenen Verteidigungssektor zu verdanken, den das Land im Zuge der großangelegten Invasion Russlands aufgebaut hat.

Trotz zahlreicher Herausforderungen hat der ukrainische Verteidigungssektor ein konstantes Wachstum und ein greifbares Potenzial für einen weiteren Kapazitätsausbau gezeigt. So ist die Rüstungsproduktion zwischen 2022 und 2025 um das 35-Fache gewachsen. Dieses Wachstum wurde vor allem durch zwei zentrale Faktoren begünstigt: Den anhaltenden Bedarf an Fähigkeiten für intensive Kriegsführung sowie die Unsicherheit angesichts der begrenzten Leistungsfähigkeit der europäischen Verteidigungsindustrie zur Deckung des ukrainischen Bedarfs und die Verzögerungen bei der militärischen Hilfe aus den USA, insbesondere durch Blockaden im US-Kongress 2024.

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat deutlich gemacht, dass Quantität nicht immer gleichbedeutend mit Qualität ist, dass aber Quantität auf dem Schlachtfeld noch immer einen entscheidenden Einfluss hat. In dieser Hinsicht erzielte die Ukraine zwischen 2023 und 2024 bedeutende Fortschritte bei der heimischen Produktion von Mörser- und Artilleriemunition im Kaliberbereich von 60 mm bis 155 mm. Die Produktionsmenge stieg von 1 Million auf 2,5 Millionen Schuss pro Jahr – ein Zuwachs von 150 % bis 2024.

Auch die Drohnenproduktion ist stetig gewachsen. Im Oktober 2024 gab Präsident Wolodymyr Selenskyj bekannt , dass der ukrainische Verteidigungssektor die Grenze von über 2 Millionen produzierten Drohnen pro Jahr überschritten habe. Ein neues Ziel von 4 Millionen Drohnen jährlich wurde gesetzt. Dies ist eine beachtliche Leistung, vor allem im Hinblick darauf, dass ukrainische Drohnen ständig aufgerüstet werden, um einen besseren Schutz vor elektronischer Kampfführung, eine größere Reichweite und eine höhere Gesamtleistung auf dem Schlachtfeld zu erreichen. Diese Weiterentwicklungen ermöglichen es den Drohnen, langstreckentaugliche Raketensysteme zu ergänzen und in einigen Fällen sogar zu ersetzen, dabei jedoch kostengünstiger und flexibler zu bleiben.

Wichtig ist auch, dass sich der Fortschritt nicht auf Luftdrohnen beschränkt. Die Ukraine hat auch die Entwicklung und den Einsatz von maritimen Drohnen erheblich vorangetrieben, die ihre Wirksamkeit in der asymmetrischen Kriegsführung wiederholt unter Beweis gestellt haben. Diese Fähigkeiten sind nicht nur für die Ukraine von Bedeutung, sondern auch für Europa und die USA im Kontext ihrer breiteren militärischen Engagements und Abschreckungsstrategien, insbesondere im Hinblick auf potenzielle Konfliktszenarien, etwa rund um Taiwan.

Im Bereich der Artilleriesysteme nähert sich die Ukraine dank der 2S22 Bohdana, der ersten ukrainischen Panzerhaubitze mit NATO-Kaliber (155 mm), dem Punkt, an dem sie ihren Bedarf an der Front eigenständig decken kann. Die monatliche Produktion stieg von etwa sechs Einheiten im Jahr 2023 auf über zwanzig Einheiten pro Monat bis 2025.

Der anhaltende Erfolg des ukrainischen Verteidigungsindustriewachstums hängt entscheidend von zusätzlicher Finanzierung ab, und genau hier können die EU (und potenziell auch die USA) eine entscheidende Rolle spielen. Die sich weiterentwickelnden Kooperationsmechanismen der EU im Verteidigungsbereich können nicht nur die ukrainische Rüstungsproduktion unterstützen, sondern die Ukraine auch näher an die Union im sicherheitspolitischen Bereich heranführen, und gleichzeitig zu ihrem Wiederaufbau nach dem Krieg und langfristigen wirtschaftlichen Wachstum beitragen.

Eine vertiefte EU–Ukraine-Zusammenarbeit würde es beiden Seiten ermöglichen, ihre Abhängigkeit von US-Lieferungen zu verringern. Dieses Ziel steht im Einklang mit den Verteidigungsprioritäten der EU, wie sie im „Weißbuch zur Zukunft der europäischen Verteidigung – Bereitschaft 2030“ formuliert sind, und wird durch das zunehmende Interesse europäischer Rüstungsunternehmen an Joint Ventures mit ukrainischen Partnern gestützt.

Beispielsweise arbeiten Rheinmetall und die Czechoslovak Group (CSG) mit ukrainischen Unternehmen zusammen, um 155-mm-Artilleriemunition gemeinsam in der Ukraine zu produzieren. Ebenso kooperieren das deutsche Unternehmen Krauss-Maffei Wegmann (KMW) und das französische Nexter Systems mit ukrainischen Partnern, um Wartung, Ersatzteile und lokale Produktion von Systemen wie der CAESAR- und PzH-2000-Haubitze bereitzustellen. Diese Beispiele zeigen, wie sich die europäische Industrie zunehmend für die Stärkung der ukrainischen Verteidigungskapazität engagiert, was wiederum die europäische Verteidigung insgesamt stärkt.

Angesichts der gemeinsamen Interessen an einer engeren Verzahnung der ukrainischen und europäischen Verteidigungsindustrien und mit neuem EU-Rahmenwerk, das eine aktivere Beteiligung der Ukraine an verteidigungsbezogenen Projekten der EU ermöglichen, sollte die Europäische Union diese Gelegenheit unbedingt nutzen.

Dennoch bestehen weiterhin erhebliche Herausforderungen, insbesondere die Lücke zwischen den akuten militärischen Bedarfen der Ukraine im Krieg und den langfristig angelegten Aufrüstungszielen der EU. Weitere Hindernisse ergeben sich aus Finanzierungsengpässen, rechtlichen Beschränkungen und technischen Schwierigkeiten, die gemeinsame Produktions- und Beschaffungsmaßnahmen verzögern könnten.

Gerade hier kann die Rolle der USA entscheidend sein. Wenn Washington aktiv an den Gesprächen über eine EU–Ukraine-Integration im Verteidigungsbereich teilnimmt und bereit ist, finanzielle Beiträge zu leisten, wobei es auf seine größere haushaltspolitische Flexibilität im Vergleich zu den EU-27 zurückgreifen kann, könnte es zum zentralen Impulsgeber einer gemeinsamen europäischen Verteidigung werden. In diesem Szenario müssten sich die EU und die Ukraine um die übrigen Aspekte kümmern: Koordination, rechtliche Harmonisierung, Planung, Logistik und Sicherung der Lieferketten.

Wichtig ist, dass institutionelle Mechanismen für eine solche Zusammenarbeit bereits existieren. Vertreter der ukrainischen und europäischen Verteidigungsindustrien tauschen regelmäßig Informationen und bewährte Verfahren aus, oft vermittelt durch NGOs und zivilgesellschaftliche Organisationen, die Besuche koordinieren, gegenseitiges Verständnis fördern und konkrete Kooperationen ermöglichen.

Auf institutioneller Ebene spielt die Europäische Verteidigungsagentur (EDA) eine einzigartige und zunehmend strategische Rolle. Sie fungiert als zentrale Vermittlerin zwischen der EU-Rüstungsindustrie und dem ukrainischen Verteidigungssektor mit dem Ziel, gemeinsame Beschaffungsvorhaben zu koordinieren, die Ukraine in EU-Forschungs- und Entwicklungsprogramme einzubinden und Innovationen durch das neue European Defence Innovation Office (EUDIO) in Kyjiw zu fördern. Zudem kümmert sich die EDA um mögliche regulatorische und administrative Hürden bei der Beteiligung der Ukraine an EU-Verteidigungsprojekten.

Ein Beispiel dafür war das EU–Ukraine-Forum der Verteidigungsindustrien, das im Mai 2024 von EDA, Europäischer Kommission und Europäischem Auswärtigen Dienst (EAD) gemeinsam organisiert wurde. Das Forum brachte zentrale Akteure wie Josep Borrell (HR/VP) und hochrangige ukrainische Vertreter zusammen und ermöglichte direkten Austausch zwischen der EU- und der ukrainischen Rüstungsindustrie.

In diesem Zusammenhang ist die Zusammenarbeit zwischen der EU und der Ukraine im Verteidigungsbereich nicht bloß ein Unterstützungsmechanismus für Kyjiw, sondern zu einem Grundpfeiler beim Aufbau europäischer Verteidigungsfähigkeit geworden. Diese Partnerschaft stärkt die Sicherheit des gesamten Kontinents und positioniert die Ukraine als strategischen Aktivposten in der sich wandelnden europäischen Sicherheitsordnung.

Die USA müssen weiterhin Teil der europäischen Sicherheitsarchitektur bleiben und die Integration des ukrainischen Verteidigungssektors in die EU-Strukturen aktiv unterstützen. Trotz sich verschiebender globaler Prioritäten hat Washington gute Gründe, seine Rolle in Europa, zumindest mittelfristig, beizubehalten, während es gleichzeitig die Entwicklung einer eigenständigen europäischen Verteidigung fördert. Dies würde helfen, China und andere potenzielle Gegner abzuschrecken, und gleichzeitig sicherstellen, dass Russlands Aggression gegen die Ukraine nicht belohnt wird und dass das transatlantische Bündnis angesichts der aktuellen und künftigen Herausforderungen strategisch zusammenhält.

Schlussfolgerungen: Auf dem Weg zu einer postamerikanischen europäischen Sicherheitsordnung

Russlands großangelegter Angriffskrieg gegen die Ukraine und die sicherheitspolitische Neuausrichtung der USA auf Asien haben Europa in eine schwierige Lage gebracht. Historisch gesehen waren die Haltungen zur Stärkung der europäischen Verteidigung beiderseits des Atlantiks unterschiedlich, abhängig vom geopolitischen Kontext und sich wandelnden Machtverhältnissen. Die Rückkehr zum hochintensiven Krieg hat das Thema militärischer Sicherheit wieder ganz oben auf Europas Agenda gesetzt. Zugleich hat die Aussicht auf eine partielle US-Rückverlagerung die Notwendigkeit unterstrichen, eine gemeinsame europäische Verteidigung aufzubauen und die nötigen Fähigkeiten zur Selbstverteidigung zu entwickeln.

Was sich derzeit im Bereich der transatlantischen Sicherheit vollzieht, kann zu Recht als Übergang zu einer postamerikanischen europäischen Sicherheitsordnung bezeichnet werden. „Postamerikanisch“ bedeutet in diesem Kontext nicht einen vollständigen Rückzug der USA aus Europa oder die Auflösung der NATO. Vielmehr deutet es auf eine beschleunigte strategische Neuausrichtung Washingtons auf den Indo-Pazifik hin sowie auf eine Verlagerung von Verantwortung auf die europäischen Partner.

Anhaltende Spannungen und gegenseitige Kritik zwischen Europa und den USA sind dabei kontraproduktiv. Sie schwächen die transatlantische Bindung und spielen Gegnern wie Russland und China in die Hände – beide Akteure, die gezielt versuchen, Spaltung unter demokratischen Bündnissen zu säen. Stattdessen bedarf es einer intensiveren Kommunikation zwischen der EU und den USA und einer koordinierten Planung mit spezifischen Meilensteinen, Ergebnissen und Zeitvorgaben für eine verantwortungsvolle Neuausrichtung der amerikanischen Militärpräsenz. Diese Gespräche müssen die Ukraine einbeziehen, die nicht nur ein entscheidender Frontstaat, sondern ein wachsender Partner in der europäischen Verteidigungsproduktion und strategischen Planung ist. Eine solche Integration würde die militärische Einsatzbereitschaft Europas verbessern, die strategische Autonomie fördern und die europäische Säule der NATO stärken – ein wesentlicher Pfeiler demokratischer Resilienz und kontinentaler Sicherheit.

Die Grundlagen dafür, dass die EU zu einem geopolitisch und sicherheitsorientierten Akteur wird, sind heute gegeben. Doch um strategische Ambitionen in konkrete Ergebnisse zu übersetzen, braucht es klare Abstimmung zwischen den USA, der EU und Schlüsselpartnern wie der Ukraine. Dazu ist die Erarbeitung einer umfassenden Roadmap zur Aufgabenverteilung im Bereich der europäischen Verteidigungsentwicklung dringend erforderlich.

Der bevorstehende NATO-Gipfel in Den Haag könnte hierbei eine entscheidende Rolle spielen. Er bietet die Gelegenheit, konkrete Vorschläge zur Umsetzung der neuen Verteidigungsagenda zu präsentieren und zu prüfen, ob Brüssel und Washington fähig sind, Differenzen zu überbrücken und einen neuen strategischen Kompromiss zu erzielen. Eine aktualisierte Gemeinsame Erklärung zur Zusammenarbeit zwischen der EU und der NATO könnte als Instrument dienen, um diese notwendige Roadmap zu starten.

Die EU-Führung zeigt sich entschlossen und handlungsbereit. In ihrer Aachener Rede betonte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass Europa eine neue Form der „Pax Europaea“ für das 21. Jahrhundert schaffen müsse – eine, die von Europäern selbst gestaltet und geschützt werde. Zwar würdigte sie die historische Rolle der NATO und des transatlantischen Bündnisses für Europas Sicherheit, stellte aber auch klar: Die Zeit der Friedensdividende ist vorbei. Beim Gipfel für europäische Verteidigung und Sicherheit am 10. Juni 2025 unterstrich Kommissar Andrius Kubilius, dass die EU zwar nicht im Krieg ist, aber in Kriegszeiten handelt. Die Union müsse ihre Verteidigungsbereitschaft ausbauen, ihre Rüstungsindustrie revitalisieren und helfen, eine neue europäische Sicherheitsarchitektur aufzubauen.

Sollte es der EU nicht gelingen, ihre Verteidigungsziele zu erreichen oder die Unterstützung für die Ukraine aufrechtzuerhalten, drohen gravierende Folgen. Ein unkoordinierter, impulsiver und chaotischer Rückzug der USA aus der europäischen Sicherheitsstruktur würde beiden Seiten des Atlantiks schaden. Deshalb müssen die EU, die NATO, die Ukraine und andere gleichgesinnte Partner sekundäre Differenzen beiseitelegen und gemeinsam eine Vision für die postamerikanische europäische Sicherheitsordnung entwickeln. Wenn sie das nicht tun, wird diese Ordnung von Russland und seinen Verbündeten gestaltet, und Europa könnte in diesem Fall Jahrzehnte der Instabilität, Erpressung und des Konflikts bevorstehen.


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